Wie nähert man sich einem Mörder? Wie dreht man einen Film über einen Menschen, der getötet hat und als Sexualstraftäter verurteilt wurde? Darf man das? Wie kann man vermeiden, dass es zu unerwünschter Rechtfertigung kommt? All diese Fragen (und mehr) schwirren durch Stefan Kolbes und Chris Wrights essayistischen Dokumentarfilm „Anmaßung“, der die Grenzen und Möglichkeiten seines Genres auslotet.
Website: www.gmfilms.de/Anmaßung
Dokumentation
Deutschland 2021
Regie & Buch: Stefan Kolbe & Chris Wright
Länge: 111 Minuten
Verleih: GMFilms
Kinostart: 22. Juli 2021
FILMKRITIK:
Bei der Recherche zu einem Projekt über Therapeuten in einer Justizvollzugsanstalt in Brandenburg lernten die Filmemacher Stefan Kolbe und Chris Wright den Sexualstraftäter und Mörder Stefan S. kennen. Schnell stand der Entschluss fest, einen Film über Stefan S. zu drehen, doch ebenso schnell kamen Fragen nach dem wie auf. Jahrelang hatte das Regie-Duo Filme wie „Pfarrer“ oder „Mutterglück“ gedreht, in denen sie ihren Protagonisten sehr nahe gekommen waren, was zu einer gewissen Form der Authentizität, aber auch so einer psychischen Erschöpfung der Macher geführt hatte.
Gerade angesichts der gelinde gesagt schwierigen Persönlichkeit Stefan S. stellte sich nun die Frage, wie ein Film über einen Mörder aussehen konnte. Denn erschwerend kam hinzu, dass Stefan S. – womöglich aus Geltungsdrang und Eitelkeit – zwar beim Filmprojekt mitmachen wollte, sich andererseits aber weigerte in Bild oder Sprache erkennbar zu sein.
Diese beiden Aspekte führten zu einer Form, die in einem Maße selbstreflexiv anmutet, dass „Anmaßung“ oft weniger wie ein Dokumentarfilm anmutet, als wie ein Dokumentarfilm über das Drehen von Dokumentarfilmen.
Um dem Wunsch Stefan S. zu genügen, nicht zu erkennen zu sein, ersannen die Regisseure eine Methode, die an psychiatrische Therapien erinnert: Sie stellten eine Puppe her, die wenig lebensecht wirkt, durch zwei Puppenspielerinnen aber zum Leben erweckt wird. Sie ist Sprachrohr für Stefan S. Worte, sie bewirkt, dass seine oft haarsträubenden Aussagen durch eine dritte Person vorgetragen werden, eine Person, die allein durch ihren Tonfall andeutet, wie zuwider ihr diese Aussagen sind.
Auch andere Methoden der Distanzierung wenden Kolbe und Wright an, zeigen immer wieder das Filmteam im Bild, zeigen Kameras und Tonarme und reflektieren im Voice Over über das was sie da gerade tun. Mehr und mehr deuten sich die Ambivalenz des Titels an, die „Anmaßung“, die sich nicht zuletzt auf die Frage bezieht, ob man so einen Film über einen Mörder wirklich drehen sollte und darf.
Betrachtet man die aktuelle Phase des Dokumentarfilms in Deutschland als Post-“Lovemobil“-Ära, erlangt „Anmaßung“ eine zusätzlich interessante Ebene. Viele der Vorwürfe die jener vorgeblichen, jedoch in weiten Teilen gefälschten Dokumentation vollkommen zu Recht gemacht wurden, scheinen die Regisseure von „Anmaßung“ in ihrer Arbeit zu machen: Ein ständiges Hinterfragen der eigenen Haltung, eine Offenlegung der filmischen Mittel, eine fast schon enervierend selbstreflexive Haltung. Dass Chris Wright bei „Lovemobil“ als dramaturgischer Berater aktiv war, verleiht dem Film zusätzlich eine besondere Note. Nicht allzu viele Sujets verlangen nach dem Maß an Selbsthinterfragung, wie es bei „Anmaßung“ möglich und vielleicht auch nötig ist. Als Musterbeispiel für viele der ethischen Fragen, die sich gerade jetzt an das dokumentarische Kino stellt, ist Stefan Kolbes und Chris Wrights Film jedoch ein vielschichtiger Beitrag zur Diskussion.
Michael Meyns