Ein unerklärliches Naturphänomen lässt den Physiker Micha nicht mehr los: 1994 verschwand das Meer vor dem Küstenort Windholm spurlos. Und mit ihm die Kinder des Dorfes. Micha begibt sich in die Abgeschiedenheit der nordfriesischen Natur und versucht, das Rätsel zu lösen. Der deutsche Sci-Fi-Fantasy-Film findet nach unspektakulärem, konventionellem Beginn nach rund 20 Minuten immer mehr in die Spur. Allmählich entwickelt sich „Wir sind die Flut“ dann zu einem atmosphärischen, spannenden Mystery-Kriminalfall vor betörender Kulisse. Das Highlight sind die anmutige Bildsprache und die beklemmenden Aufnahmen der verlassenen Orte.
Webseite: www.wirsinddieflut.de
Deutschland 2016
Regie: Sebastian Hilger
Buch: Nadine Gottmann
Darsteller: Max Mauff, Lana Cooper, Gro Swantje Kohlhof,
Roland Koch, Max Herbrechter
Länge: 84 Minuten
Verleih: derzian Pictures
Kinostart: 10.11.2016
FILMKRITIK:
1994 ereignete sich vor der Küste Windholms ein Naturphänomen, das die Wissenschaft bis heute vor ein Rätsel stellt. Das Meer war plötzlich weg, einfach so und scheinbar ohne rational erklärbaren Grund. Mit dem Meer verschwanden auch die Kinder des Dorfes. Der Vorfall lässt den Physiker Micha (Max Mauff) von der Humboldt-Uni seit Jahren nicht los. Er präsentiert seine neuesten Erkenntnisse zur Gravitationsanomalie dem Uni-Institut in der Hoffnung, Gelder für seine Forschung und eine Reise nach Windholm zu bekommen. Doch seine Äußerungen stoßen auf taube Ohren. Kurzerhand macht er sich mit seiner Ex-Freundin Jana (Lana Cooper), Tochter des Institutschefs, alleine in das verlassene Küsten-Örtchen auf. Gemeinsam wollen sie das Rätsel um das verschollene Meer und die Kinder lösen.
„Wir sind die Flut“ ist der Diplomfilm von Sebastian Hilger, der damit sein Studium an der Filmakademie Baden-Württemberg abschloss. Die Rechte wurden von den studentischen Produzenten selbst erworben, bei der Realisierung wurden sie vom Medienboard Berlin-Brandenburg, dem RBB und der der Filmuniversität Babelsberg unterstützt. Seine Premiere erlebte die – für deutsche Kino-Filme untypische – Mischung aus Science-Fiction und Fantasy auf der diesjährigen Berlinale in der Sektion „Perspektive Deutsches Kino“. Gedreht wurde „Wir sind die Flut“ im November und Dezember 2014 u.a. in Berlin und auf der nordfriesischen Insel Pellworm.
Der Film beginnt zunächst recht gängig und konventionell, wie viele Filme über mysteriöse Fälle und geheimnisvolle Rätsel. So z.B. mit der raschen Einführung der Figuren und den nur kurzen Erklärungen bzw. wenigen Infos über das eigentliche Ereignis vor über 20 Jahren. Der Vorteil, dass dies zu Beginn alles recht schnell „abgearbeitet“ wird ist aber, dass „Wir sind die Flut“ bereits nach rund 15 Minuten ordentlich Fahrt aufnimmt und schnell zur Sache kommt. Denn die Konventionalität verschwindet aus dem Film mit der Ankunft von Micha und Jana im dem Küstenort. Dort stoßen sie zunächst einmal auf eine Mauer des Schweigens unter den Bewohnern. Nur Hanna (emotional verkörpert von Gro Swantje Kohlhof), das einzige überlebende Kind von damals, steht Micha und Jana helfend zur Seite. Der Film spielt sich jetzt bis zum Ende fast nur noch in Windholm ab, jener – im wahren Leben – nördlichsten Spitze der nordfriesischen Insel Pellworm. Dort fand, bei Windstärke sieben, ein Großteil der Dreharbeiten statt.
Wenn sich Micha und Jana dann auch zum ersten Mal selbst ins Watt begeben, halten Atmosphäre, zunehmender Surrealismus und eine bedrohliche Stimmung Einzug in den Film. Hauptverantwortlich für die beklemmende, mysteriöse Atmosphäre sind die wunderbaren Bilder von Kameramann Simon Vu. Die bläulich schimmernden, opulent anmutenden Einstellungen und Aufnahmen der verlassenen Wattlandschaften und minimalistischen Natur der Insel, spiegeln das Innere der Hauptfiguren wider: Micha und Jana verlieren sich zunehmend in dem Fall und können immer schwerer zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden.
Die Bilder vom heruntergekommenen Schwimmbad des Ortes, den verlassenen Spielplätzen und „Spuren“ der Kinder im Watt (etwa durch zurückgelassene Gegenstände oder Spielsachen), erinnern oft an die Geisterstadt Prypjat, in der Nähe des Atomkraftwerks Tschernobyl. Zumal Hanna auch Katastrophentouristen an den Ort des Geschehens führt, ebenso wie dies schon lange an den Orten in der Nähe Tschernobyls der Fall ist. Diese von Ödnis und menschlichem Leben zeugenden, unheimlichen Gegenden üben einen großen Reiz auf die Menschen aus. „Wir sind die Flut“ macht sich das zu eigen – auf überzeugende Art und mit Hilfe einer kreativen Bildsprache und einnehmenden Optik. Wenn es gegen Ende mehr und mehr ins Phantastische, Unerklärliche und zurück in die eigene Kindheit geht, atmet das Werk stellenweise den Geist von Weltraum-Märchen wie „Interstellar“ oder „Solaris“.
Björn Schneider