Insbesondere in Deutschland spielt die historische Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs eine exponierte Rolle. Dennoch stoßen auch Geschichstbewanderte immer wieder auf neue Fußnoten der Weltkriegsgeschichte. Ein eher unbekanntes Kapitel der Historie, das gerade in Dänemark in den Blick der Öffentlichkeit kommt, nimmt der dänische Filmemacher Martin Zandvliet in seinem erschütternden Antikriegsfilm „Unter dem Sand“ als Ausgangspunkt für ein eindringliches, auf den Punkt inszeniertes Nachkriegsdrama. Ohne Pathos entfaltet Zandvliet seine pazifistische Botschaft in einem kleinen Meisterwerk, das in vielerlei Hinsicht an den Klassiker „Im Westen nichts Neues“ gemahnt.
Webseite: www.unterdemsand.de
OT: Under sandet
Dänemark, Deutschland 2015
Regie: Martin Zandvliet
Darsteller: Roland Møller, Mikkel Boe Følsgaard, Louis Hofmann, Joel Basman, Oskar Bökelmann, Emil Belton, Oskar Belton, Laura Bro
Länge: 100 Min.
Verleih: Koch Media, Vertrieb: 24Bilder
Kinostart: 07.04.2016
Preise/Auszeichnungen / Pressestimmen:
Ausgezeichnet mit 6 dänischen Filmpreisen 2016, u.a. Bester Film und Beste Regie.
Dragon Award Best Nordic beim Göteborg International Film Festival
Warsteiner Publikumspreis und dem Moviezone Award beim International Film Festival Rotterdam
"...zeigt ein unbekanntes Kapitel der Nachkriegsgeschichte: deutsche Kindersoldaten als Minenräumer. ...die dänisch-deutsche Koproduktion ist Kriegsdrama, Thriller und Charakterstudie in einem. ...ein großartiger Spielfilm."
DER SPIEGEL
FILMKRITIK:
Im Oktober 1918, wenige Tage vor dem Ende des Ersten Weltkriegs, verliert ein 17-jähriger Soldat namens Paul Bäumer sein Leben, und das „an einem Tage, der so ruhig und still war an der ganzen Front, daß der Heeresbericht sich auf den Satz beschränkte, im Westen sei nichts Neues zu melden“.
Eine einleitende Texttafel gibt das Setting vor: Im Mai 1945 ist der Zweite Weltkrieg vorbei und die fünfjährige Besetzung Dänemarks durch die Wehrmacht endet, hunderttausende Wehrmachtsangehörige verbleiben in alliierter Kriegsgefangenschaft. Dass die Nazigeneräle die dänische Nordseeküste mit mehr als zwei Millionen Sprengfallen verbarrikadierten, weil sie hier die Landung amerikanisch-britischer Truppenverbände vermuteten, müssen nun junge Volksstürmer ausbaden, die die tödlichen Landminen entlang der Küste in Handarbeit räumen sollen. Da die Alliierten in der Normandie an Land gingen, und eben nicht in Dänemark, liegen die Minen nämlich unversehrt und hochgefährlich im Sand vergraben.
Der oben zitierte Schlusssatz aus Erich Maria Remarques Antikriegsroman „Im Westen nichts Neues“ könnte so ähnlich auch am Anfang oder Ende von „Unter dem Sand“ stehen. Was Remarque auf den Stellungskrieg des Ersten Weltkriegs münzte, überträgt der dänische Regisseur und Drehbuchautor Martin Zandvliet auf die Nachbeben des Zweiten Weltkriegs. Während Paul Bäumer stirbt, als der Krieg eigentlich schon verloren ist, erscheint das Martyrium der blutjungen Volksstürmer aus „Unter dem Sand“ gewissermaßen noch sinnloser, da der Zweite Weltkrieg sogar schon offiziell vorbei ist, als die Handlung einsetzt. Man könnte „Unter dem Sand“ daher als Antinachkriegsfilm bezeichnen. Während bei Remarque Paul Bäumer stellvertretend für das jugendliche Kanonenfutter steht, dient in „Unter dem Sand“ ein nachdenklicher Volksstürmer namens Sebastian Schumann (Louis Hofmann, "Freistatt") als Identifikationsfigur.
In der Eröffnungsszene macht Zandvliet vom Fleck weg deutlich, dass der Feldwebel Carl Rasmussen (Roland Møller) die Deutschen bis aufs Blut hasst. Dass er es im weiteren Verlauf mit Soldaten zu tun bekommt, die fast noch Kinder sind, stört das Raubein wenig: Wenn er der Väter nicht habhaft werden kann, müssen eben die Söhne zur Rechenschaft gezogen werden. Rasmussen kommandiert ein gutes Dutzend Kriegsgefangene, darunter der selbstbewusste Sebastian, der mit 19 Jahren Gruppenälteste Helmut (Joel Basman) und die Zwillingsbrüder Ernst (Emil Belton) und Werner (Oskar Belton), die klugerweise den Plan fassen, nach der Entlassung als Handwerker zu reüssieren. Dass es nicht dazu kommt, liegt von Beginn an mehr oder minder auf der Hand. Und dennoch ist es immer wieder aufwühlend, wenn die Soldaten beim Entschärfen der Minen in bitterer, fortlaufender Konsequenz ihr Leben lassen. Die Jugendlichen wühlen mit bloßen Händen im Sand, ohne Schutzkleidung, im Dauerstress, mit hungrigen Mägen und Todesangst im Nacken. Erst wenn sie das Pensum erfüllt und rund 45.000 Landminen entschärft haben, dürfen sie nach Hause, sagt Rasmussen.
Einen Kontrast zur Härte der Erzählung eröffnen die pastelligen Farben der Nordseeküste. Oft liegt eine trügerische Stille über den dünn bewachsenen Dünen. Der Wind weht Sandkörner umher, im Hintergrund rauscht gleichmütig das Meer – dann knallt es und ein Mensch löst sich buchstäblich in Luft auf. Dass Martin Zandvliet kaum Musik verwendet, erweist sich als so kluge wie effektive inszenatorische Entscheidung. Stattdessen entsteht die Spannung aus dem Kontext und den Figuren heraus, was eine viel intensivere Wirkung zeitigt als eine übergestülpte Spannungsschraube. Dass es dennoch nervenzehrend ist, wenn die jungen Männer mit zittriger Hand den Sicherheitsstift entfernen oder ihre Stimmen im Wind ersticken, wenn sie sich gegenseitig warnen wollen, ist eine Leistung, die „Unter dem Sand“ als Kleinod im Reigen der Antikriegsdramen auszeichnet.
Anders als die Kriegsgefangenen aus „Gesprengte Ketten“ oder gar jene aus reaktionären Actionfilmen wie „Missing in Action“ avancieren die Protagonisten aus „Unter dem Sand“ nicht zu Helden, sondern ergeben sich ihrem Schicksal, weil ihnen keine Wahl bleibt. Dass der Feldwebel im Handlungsverlauf zaghaft Erbarmen mit den Deutschen zeigt und sukzessive zu einer Ersatzvaterfigur avanciert, erzählt Martin Zandvliet in absolut unverkitschter Weise. Selbst, wenn der Feldwebel und „seine Jungs“ in der besinnlichsten Szene gemeinsam Fußball spielen, verliert der Regisseur die rohe Brutalität seines pazifistischen Weltkriegsdramas nie aus den Augen. Wo man leicht ein gefälliges Läuterungsdrama in Szene setzen könnte, wirft Zandvliet seine eher distanzierte, sachliche Erzählweise nie über den Haufen.
Am Ende kulminiert das Nachkriegsdrama in einem Schlussakkord, der auf einen niederschmetternden Schockmoment einen Funken der Hoffnung folgen lässt. Und das an einem Tag, der so geschäftig und entbehrungsreich war im zertrümmerten Deutschland, dass wohl kaum jemand der Söhne gedachte, die an der Nordseeküste scharenweise ihr Leben ließen, als sie die Minen ihrer Väter entschärften.
Christian Horn