In der deutsch-polnischen Co-Produktion „Unser letzter Sommer“ blickt Dokumentarfilmer Michael Rogalski auf das Leben junger Menschen, auf ihre erste Liebe und ihre Freundschaften im Sommer des Jahres 1943. Sein Spielfilmdebüt erzählt in trügerisch-schönen Bildern vom Leben in der polnischen Provinz, welche vom Schrecken des Krieges und den Verbrechen der Nazis zunehmend bedroht scheint. Ein junger, deutscher Soldat (großartig gespielt von Nachwuchstalent Jonas Nay) freundet sich darin mit der hübschen Tochter eines polnischen Bauern an. Frankas Liebe gilt jedoch dem Nachbarsjungen Romek, der eines Tages ein verletztes, jüdisches Mädchen im Wald entdeckt.
Webseite: www.unserletztersommer.de
D/PL 2015
Regie & Drehbuch: Michal Rogalski
Kamera: Jerzy Zielinski
Darsteller: Jonas Nay, Filip Piotrowicz, Urzula Bogucka, Maria Semotiuk, André Hennicke, Gerdy Zint, Steffen Scheumann
Laufzeit: 100 Minuten
Kinostart: 22.10.2015
Verleih: farbfilm
FILMKRITIK:
Irgendwo in Südostpolen. Es ist der Sommer des Kriegsjahres 1943. Während sich an der Ostfront deutsche und sowjetische Truppen erbitterte Kämpfe liefern, rollen dahinter die vollbesetzten Züge weiter in die Vernichtungslager nach Auschwitz und Treblinka. Irgendwo entlang der Bahnstrecke zwischen Warschau und Treblinka in der Nähe eines kleinen polnischen Dorfes haben die Deutschen einen Militärposten errichtet, in dem der mörderische Krieg noch seltsam weit weg scheint. Für den jungen deutschen Soldaten Guido (Jonas Nay), der für das Hören als „undeutsch“ geltender Jazzmusik dorthin strafversetzt wurde, ist es dennoch eine ziemliche Hölle. Immer wieder gerät er in Konflikte mit seinen Kameraden und Vorgesetzten. Da ist die Begegnung mit der schönen Franka (Urzula Bogucka) ein seltener Lichtblick. Obwohl das Herz der Bauerstochter eigentlich an Romek (Filip Piotrowicz) hängt – und dessen Herz auch an ihr –, scheinen ihr die Avancen des jungen Deutschen zu schmeicheln.
Die Ausgangslage der vom polnischen Kurz- und Dokumentarfilmer Michal Rogalski erdachten Geschichte, für die er sich von Fotos seiner Großeltern und Erzählungen aus der damaligen Zeit inspirieren ließ, deutet zunächst auf eine klassische Dreiecksbeziehung vor der Kulisse des Krieges hin. Tatsächlich nimmt der Film recht bald eine andere Wendung, als Romek im Wald ein verletztes jüdisches Mädchen findet. Bunia (Maria Semotiuk) ist auf die Hilfe des jungen Rangierlokheizers angewiesen, will sie in der für sie fremden Umgebung unentdeckt überleben. Die Bedrohung, welche aus der deutschen Besatzung resultiert, ist aber auch für Romek und Franka immerzu spürbar.
Dabei manifestiert sich der Schrecken des Krieges bei Rogalski nicht in den bekannten Bildern von deutschen Gräueltaten oder erbarmungslosen Kämpfen an der Ostfront. Das eigentlich Unfassbare verbirgt sich hier vielmehr in Andeutungen des Grauens. Wenn entlang der Bahnstrecke zurückgelassene Kleidungsstücke auftauchen oder Romeks Lok zur Desinfektionsrampe beordert wird, dann wissen alle Beteiligten und mit ihnen auch der Zuschauer um die Bedeutung dieser Bilder. Der Kontrast zu den malerischen Landschaftsaufnahmen, den sonnendurchfluteten Feldern und klaren Seen könnte jedenfalls kaum größer sein. Beides zusammen sorgt für eine seltsame (An-)Spannung. Es scheint, als zöge allmählich ein Sturm herauf, aus dem Rogalskis junge Protagonisten nicht mehr entkommen sollten.
Tatsächlich unterwandert der Film so manche Erwartungen. Die deutsch-polnische Co-Produktion portraitiert die deutschen Soldaten keineswegs allesamt als gefühllose Nazischergen. Guido und seine Kameraden sind oft gelangweilt, sehnen sich nach Zuhause und nach ihren Familien. Das Leben in dem entlegenen Militärposten wird meist bestimmt von Banalitäten. Diese Erfahrungen spiegelt Rogalski auf der polnischen Seite. So wie Guido suchen auch Romek und Franka nach ihrem Glück in dunklen Zeiten. In „Unser letzter Sommer“ fällt der Blick auf das alltägliche Leben und die kleinen Wünsche. Als Inspiration dienten Rogalski dabei unter anderem Erzählungen seiner Großmutter. „So paradox es klingt, es war vermutlich die beste Zeit ihres Lebens (...) weil sie jung war“ erklärt er dazu in einem Interview.
Sein Film erkundet am Ende ein durchaus typisches Coming-of-Age-Szenario, in dem der Verlust der Unschuld und das Erwachsenwerden im Mittelpunkt stehen. Zu einem sehenswerten Debüt wird „Unser letzter Sommer“ maßgeblich durch seine jungen Darsteller. Vor allem Jonas Nay – bekannt aus „Wir sind jung. Wir sind stark“ – zeigt, warum er zu Recht als einer der größten Nachwuchstalente des deutschen Films gehandelt wird. Voller Energie und Ausdruck, präsent und mit einem Blick, der mehr sagt als jede Dialogzeile, bleibt sein Spiel lange in Erinnerung.
Marcus Wessel