Mein Leben als Zucchini

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Nach seiner Weltpremiere in Cannes lief „Mein Leben als Zucchini“ auf zahlreichen Filmfestivals (etwa als Eröffnungsfilm des DOK Leipzig) und gewann etliche Filmpreise (wie den Publikumspreis in San Sebastian). Aktuell steht der 66-minütige Stop-Motion-Film als Schweizer Beitrag auf der Shortlist für den Oscar in der Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“. Gerechtfertigt ist dieser Erfolg allemal. Dem Regisseur Claude Barras und der Drehbuchautorin Céline Sciamma („Tomboy“) gelingt ein ebenso unangestrengter wie ernsthafter Animationsfilm, der aus dem Kontrast zwischen der verspielten Ästhetik und dem teils schonungslosen Inhalt einen ganz eigenen Reiz bezieht. Das von der Filmbewertungsstelle in Wiesbaden verliehene Prädikat „Besonders Wertvoll“ würdigt völlig nachvollziehbar einen auf originelle Weise besonderen, vielschichtigen, sehr tiefgründigen Kinderfilm.

Webseite: www.zucchini-film.de

OT: Ma vie de Courgette
Schweiz, Frankreich 2016
Regie: Claude Barras
Drehbuch: Céline Sciamma nach dem Roman von Gilles Paris
Sprecher: Gaspard Schlatter, Sixtine Murat, Paulin Jaccoud, Michel Vuillermoz, Raul Ribera, Estelle Hennard
Laufzeit: 66 Min.
Verleih: Polyband
Kinostart: 16. Februar 2017

FILMKRITIK:

„Mein Leben als Zucchini“ beginnt als prägnanter Einblick in das Leben des 9-jährigen Icare, Spitzname „Zucchini“, der bei seiner alkoholkranken Mutter lebt. Allein gelassen stapelt Icare leere Bierdosen, malt mit seinen Wachsstiften oder bastelt einen Papierdrachen, der seinen abwesenden Vater repräsentiert. Nach einem tragischen Unfall bringt der freundliche Polizist Raymond den Jungen ins Kinderheim von Madame Paineau. Im „Haus der Springbrunnen“ fühlt sich Icare anfangs ebenfalls einsam, zumal ihn der vorlaute Simon „Kartoffel“ nennt und in eine Rauferei verwickelt. Doch nach der Eingewöhnung lernt Zucchini im Umgang mit den anderen Kindern Gemeinschaft und Zusammenhalt kennen: Die ängstliche Béatrice, die schüchterne Alice, der verfressene Jujube und der verträumte Ahmed avancieren zu echten Kameraden – auch Simon zeigt bald seine nette Seite. Als dann die schlagfertige Camille ins Heim kommt, fühlt Icare zum ersten Mal Schmetterlinge im Bauch.
 
Für ihre Filmadaption haben Barras und Sciamma die Buchvorlage „Autobiographie D‘une Courgette“ von Autor Gilles Paris zwar entschärft, schrecken aber nicht vor harten Themen zurück, die im Kinderfilmgenre normalerweise allenfalls am Rand vorkommen (weniger zaghaft fielen da noch die Grimmschen Märchen aus). Die Eltern der vernachlässigten Kinder wurden zum Beispiel abgeschoben, haben Drogen genommen oder ihre Kinder missbraucht. Camille musste sogar mit ansehen, wie ihr Vater ihre Mutter und sich selbst tötete. Liebende Eltern kennen die Kinder nicht und so wirken sie auch sehr bedrückt, als sie den mütterlichen Umgang einer Frau mit ihrem Kind beobachten. Das verbindende Gefühl der Enttäuschung bringt Simon auf den Punkt: „Wir sind alle gleich. Es gibt keinen mehr, der uns liebt.“
 
Im Gegensatz zur Darstellung aus „Oliver Twist“ und anderen Waisengeschichten erscheint das Kinderheim aus „Mein Leben als Zucchini“ nicht als Schreckensort, sondern als echte Zuflucht für die Kinder. Hier empfinden die Kinder der Vergangenheit zum Trotz Lebensfreude. Im Wechsel der Jahreszeiten symbolisieren zwei Vögel beim Nestbau die Geborgenheit, die die Kinder im Heim empfinden. Bei einem Skiausflug veranstalten sie eine Disco und tanzen zum melancholisch-heiteren Pop-Klassiker „Eisbär“: „Ich möchte ein Eisbär sein im kalten Polar, dann müsste ich nicht mehr schrei'n, alles wär' so klar. Eisbär'n müssen nie weinen.“
 
Einen besonderen Reiz gewinnt der Stop-Motion-Film aus der Reibung zwischen Inhalt und Form. Zwar wirken die ausdrucksstarken Figuren mit ihren verschobenen Proportionen und übergroßen Augen morbid (man denkt an Tim Burton), doch die bunten Kulissen und die altmodische Machart erinnern an die Naivität des „Sandmännchen“-Universums. Die verspielte Ästhetik steht im Kontrast zu den in der Realität verankerten, ernsthaften Themen, wobei der Soundtrack von Sophie Hunger die tragischen und beschwingten Anteile der Handlung einfühlsam kommentiert. Tragik und Glück liegen in diesem ruhig erzählten, wunderbar klar strukturierten Coming-of-Age-Puppenfilm so nah beieinander wie im echten Leben.
 
Christian Horn