Neben der arrivierten Theater-, Film- und Musikszene hat sich in den letzten Jahren eine alternative Opernkultur entwickelt. Einer ihrer Repräsentanten ist Mark Dornford-May, der mit „U Carmen“ 2005 den Goldenen Bären der Berlinale erhielt. Auch in dieser afrikanischen Version von „La Bohème“ wird eine klassische Oper von der Bühne mitten ins pralle Leben von Kapstadt verlegt. Das Ergebnis ist absolut begeisterungswürdig, wobei nicht nur die traditionellen Opernfans auf ihre Kosten kommen werden.
Webseite: www.arsenalfilm.de
Südafrika 2014
Regie: Mark Dornford-May
Drehbuch: Mark Dornford-May, Pauline Malefane
Musik: Giacomo Puccini
90 Minuten
Verleih: Arsenal
Kinostart: 27. August 2015
FILMKRITIK:
Puccinis Werk über die Pariser Künstlerszene im 19. Jahrhundert ist ein unbestrittener Klassiker der Musikwelt, eine Champions League-Oper. Über das tragische Schicksal der schwindsüchtigen Mimi und ihre Liebe zu Rodolfo haben Generationen von Operngängern endlose Tränenbäche vergossen. Die Oper ist wahrscheinlich nicht nur aufgrund ihrer musikalischen Qualität, sondern auch wegen der spannenden Handlung und ihrer starken, differenzierten Charaktere zum Dauerbrenner geworden.
Mark Dornford-May und das südafrikanische Isango-Ensemble haben die Oper in Xhosa übersetzt, eine der indigenen Sprachen, die im Süden Afrikas verbreitet sind. Die Partitur wurde für afrikanische Marimbas umgeschrieben, und die Hauptpersonen, bis auf Mimi, erhielten afrikanische Namen. Nun spielt die Geschichte im modernen Kapstadt und nicht mehr in Paris. Aus den brotlosen Künstlern wurden arme Studenten. Damit haben Dornford-May und sein Team nicht nur für ein authentisches Ambiente gesorgt, sondern gleichzeitig einen besonders empfindlichen Nerv getroffen: In Südafrika grassiert heute noch die Tuberkulose, mehr als 50.000 Menschen sterben jährlich daran.
Mit diesen Vorgaben wurde die wunderschöne, traurige Geschichte, die in der Vergangenheit spielt, vor einem neuen, hoch aktuellen Hintergrund noch wunderschöner und trauriger. Die Zärtlichkeit und Sinnlichkeit der Helden und ihrer Musik mischt sich mit spielerischer und musikalischer Verwegenheit – in den leichten Szenen Puccinis schäumt die Lebensfreude von der Leinwand direkt ins Publikum. Doch dicht unter der heiteren Fassade liegen auch hier Wehmut und Sehnsucht, Schmerz und Trauer. Aus dem Liebesmärchen wird eine Liebestragödie, Mimi und Lungelo (vormals Rodolfo) haben so wenig Zeit, die sie miteinander verbringen können. Und dieses bisschen Zeit möchten sie so gern genießen …
Die Isango-Truppe arbeitet schon sehr lange zusammen. Zu den Gründungsmitgliedern zählt die vormalige Carmen-Darstellerin Pauline Malefane, ein Star der Opernszene. Sie hat auch am Drehbuch mitgearbeitet. Als Sopranistin (Mezzo) verfügt sie über eine wunderbar weiche und warme, sehr sinnliche Stimme. Sie spielt in der Bohème-Adaption die kesse Zoleka (Musetta) und ist damit die perfekte Ergänzung zur zarten Mimi (Busisiwe Ngejane), die mit Leidenschaft und Hingabe so klar und schön singt wie eine der ganz großen Operndiven, nur noch ein bisschen authentischer. Lungelo (Mhlekazi Mosiea) ist für einen Tenor eher spillerig, verfügt aber über eine facettenreiche, kraftvolle und sehr innige Stimme.
Anfangs ungewohnt ist die Kombination der klassischen Operntöne mit moderner Dramaturgie und Bildgestaltung. Die Kamera ist sehr beweglich und kriecht oft mitten hinein ins bewegte Leben. Aus der Weihnachtsfeier der Puccini-Vorlage wird hier eine Feiertagsparty, bei der die Musik, die Helden und Massen von Komparsen durcheinanderwirbeln und sich gemeinsam zu einem prallen Bild der Lebensfreude zusammenfügen. Doch damit ist bald Schluss, denn Mimi, die Studentin, die vom Verkauf selbst gepflückter Lilien leben will, um sich Medikamente kaufen zu können, wird immer schwächer. Sie verlässt ihren Geliebten und ist erst am Ende wieder mit ihm vereint. Das berühmte Schlussbild – statt im Atelier hier unter einer Autobahnbrücke – ist absolut unvergesslich. Beinahe statisch, mit wenigen Kamerabewegungen, zeigt es die sterbende Mimi in einem Sperrmüllsessel und dazu ihre schmerzerfüllten Freunde, die sie schließlich mit Lungelo allein lassen. Da gibt es keine wirbelnde, schwebende Kamera, kein ausuferndes, überschäumendes Temperament, sondern nur die herzzerreißende Musik, gesungen von zwei außergewöhnlichen Stimmen.
Am Ende bleibt ein unvergesslicher Eindruck und die Ahnung, dass dieses klassische Opernstück heute wirklich hierher gehört: in die Slums von Kapstadt. Als hätte Puccini es dafür geschrieben.
Gaby Sikorski